Heute ging der inhaltliche Teil der Konsultation/Beratung („consultation“) so richtig los, und das in großen Schritten auf allen Ebenen:
Wir – die Teilnehmenden der Konsultation, aus Ghana genauso wie aus Deutschland – haben eine breite Vielfalt von Themen angesprochen und eine große Anzahl von Informationen, Überlegungen und Meinungen ausgetauscht. Gleichzeitig sind wir an mehreren Stellen sehr tief in die Themen eingetaucht und haben dabei zunehmend vielstimmig und offen unsere Gedanken ausgetauscht. Dabei ist es uns aus meiner Sicht zudem gelungen, behutsam darauf zu achten, Perspektiven in einer für die jeweils anders Denkenden annehmbaren Weise zu formulieren und dennoch zunehmend kontroversere Standpunkte sowohl ernsthaft in Betracht zu ziehen als auch nebeneinander stehen lassen zu können. Das hat dazu geführt und war nur möglich, dass wir / weil wir uns im Laufe des Tagesprogramms auf persönlicher Ebene besser kennengelernt und angenähert haben. Auch wenn, wie jeden Tag, viel zu viel passiert ist, als dass alles in diesem Blogeintrag erwähnt werden könnte, möchte ich doch zumindest einige der inhaltlichen Aspekte etwas näher beleuchten, um einen Einblick sowohl in einige der Gedanken auf der Konferenz als auch die interkulturelle Begegnung festzuhalten.
Der Tag begann, nach dem Frühstück und einer für mich schnell selbstverständlich gewordenen Teilnahme an der täglichen kurzen Andacht und Bekanntgabe wichtiger Informationen der Mitarbeiter in der Hauptgeschäftsstelle der E.P. Church, mit einem Treffen mit dem Vorstand der Kirche, dem Standing Committee. Für mich war dies eines von vielen Beispielen, das einerseits zeigte, wie viel üblicher als in Deutschland ein höflicher Umgang und Respekt vor den Leistungen und der Lebenserfahrungen anderer, insbesondere Älterer sind; das andererseits aber auch deutlich machte, wie eine Kultur der Bedeutsamkeit von Titeln, Positionen und Hierarchieebenen nicht nur einen Austausch auf Augenhöhe zu einem gewissen Grad unmöglich macht, sondern es noch viel grundsätzlicher deutlich erschwert, in diesen Gesprächen die tatsächlichen Perspektiven einiger, geschweige denn aller anwesenden Personen und Hierarchieebenen zu hören. Es passiert leicht, dass nur bestimmte Repräsentanten der höher angesehenen Ebenen sprechen und etwaige Beiträge anderer Personen stark von den Aussagen und Fragen dieser Repräsentanten gefärbt sind. Das war im Laufe des restlichen Tages deutlich anders und ist aus meiner Sicht auch keineswegs gleichzusetzen damit, aufmerksam die Position anderer aufzunehmen und nicht jede kritische Perspektive zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu äußern, was auch im weiteren Verlauf vermieden wurde und einer Wertschätzung der Position der anderen entsprang, die einen behutsamen und zunehmend offeneren Austausch erst ermöglichte.
Henry und Wisdom eröffneten uns am Vormittag mit einem umfassenden und aufschlussreichen Vortrag einen Blick auf traditionell-ghanaische Perspektiven auf das gute Leben. Im Anschluss gab Saskia einen relativ kurzen, aber sehr intensiven Einblick in ihre Sichtweise auf ein christliches gutes Leben, basierend auf ihren ganz persönlichen Erfahrungen mit gelebtem Glauben in der ESG. Durch diese beiden sehr unterschiedlichen und für mich als Einführungen in das Thema sehr stimmigen Beiträge konnten alle Anwesenden sich sehr gut auf eine von Saskia angeleitete Übung einlassen, in der wir anhand von Bildern in Kleingruppen individuelle Sichtweisen darüber austauschten, was christliche Perspektiven auf das gute Leben ausmachen könnten.
Nach einer ausgiebigen Mittagspause schlossen Godsway und Victoria mit einem fokussierten Vortrag an das Thema vom Vormittag an und erläuterten die christliche Perspektive der E.P. Church auf das gute Leben. Wie sich vorher schon andeutete, kristallisierte sich deutlich heraus, dass die anwesenden ghanaischen Studierenden sehr fest in dem Glauben stehen, dass ein gutes Leben zu haben zwar auf verschiedenen Wegen möglich ist, das tatsächlich und dauerhaft gute Leben aber nur im Glauben an Christus zu finden ist. Daraus ergab sich für sie ein klarer Auftrag, das Christentum zu verbreiten, dem sie in ihrem Alltag sowohl individuell als auch kollektiv in koordinierten, teilweise mehrwöchigen Aktionen der Studierendengemeinde nachkommen.
Insbesondere die Erzählungen von Erfolgen, in muslimischen Regionen eine Kirche zu gründen und viele anfänglich wenig interessierte Menschen zum Christentum zu bekehren, irritierten viele der Deutschen sehr. Die intensiven Gespräche des Vormittags öffneten jedoch den Raum für die konstruktive Äußerung unterschiedlicher Meinungen zu dem Thema. Dies führte zunächst dazu, dass von den Vortragenden abweichende Meinungen ausgesprochen werden konnten, ohne dass diese als Angriff wahrgenommen wurden. Im Verlauf des weiteren Gesprächs entfaltete sich dann ein sehr viel differenzierteres Bild, das zwar diese klare, aus meiner Perspektive etwas zu unhinterfragte und absolute Überzeugung beinhaltete. Dieser Überzeugung wurde aber unter anderem zur Seite gestellt, dass häufig auch Gespräche mit Andersgläubigen geführt werden, in denen deutlich ist, dass die anderen ebenfalls fest in ihrem Glauben stehen, und die sich dann selbstverständlich einem Austausch über soziale Fragen und mögliche Lösungsanwendungen zuwenden und die mit einer gegenseitigen Ermutigung enden, im jeweils eigenen Glauben zu bleiben und für die Besserung der Welt zu arbeiten. Sie wurde ergänzt mit einer Praxis institutioneller Zusammenarbeit der christlichen und muslimischen Institutionen unter anderem im Bereich der HIV-Prävention.
Meine Wahrnehmung verschob sich schrittweise dahingehend, dass ich zwar immer noch verfechte, dass eine selbstkritische Betrachtung der eigenen Überzeugungen und die demütige Haltung, sich irren zu können, enorm wichtig sind und gefördert werden sollten; dass das klare Vertreten und Verbreiten der eigenen christlichen Sichtweise der mit uns beratenden ghanaischen Studierenden aber, trotz der Radikalität der Überzeugung das gute Leben sei außerhalb des Glaubens an Jesus Christus nicht zu finden, nicht verbunden zu sein scheint damit, anderen ihren Glauben nehmen zu wollen, nicht mit Andersgläubigen zu kooperieren oder Menschen bewusst in den Glauben drängen zu wollen. Nicht nur der Wunsch nach dem Bestmöglichen für alle scheint mir aufrichtig zu sein und das Handeln zu bestimmen, sondern auch die Überzeugung, dass alle die Freiheit haben müssen, selbst zu wählen.
Selbstverständlich bleiben Aspekte, die ich kritisch sehe. Zum Beispiel erscheint mir die Missions- und allgemeiner die Glaubenspraxis, so motivierend und inspirierend sie für immer mehr Menschen in Ghana sein mag, in problematischerweise manipulierend zu sein und dazu zu erziehen, Verkündigung und Predigt unhinterfragt als Wahrheit anzunehmen. Aber es bleibt für mich nicht nur die Frage, wie die bewundernswerte Emotionalität, Lebendigkeit und Überzeugungskraft der hier vorherrschenden religiösen Praxis a) ohne die von mir wahrgenommenen Aspekte der Manipulation, Obrigkeitshörigkeit und blinden Nachahmung und b) im europäischen Kulturraum möglich sein könnten. Es bleibt auch der deutliche Eindruck, dass etwas zunächst radikal negativ Erscheinendes in der Realität doch sehr viel differenzierter ist und ich mich freue, zunächst nur zugehört und die Gemeinsamkeiten fokussiert zu haben.
Weil das ja noch nicht genug ist, haben wir uns nach einer kurzen Pause drei sozio-ökonomischen Modellen zugewandt, die in Deutschland aktuell diskutiert werden und die alle drei für sich beanspruchen, zum guten Leben beizutragen: Die Lohnarbeit, wie sie aktuell verbreitet ist, das bedingungslose Grundeinkommen, und eines recht unbekannten Modells, das den Arbeitsbegriff erweitern will und vorschlägt, ein Grundeinkommen für all diejenigen zu ermöglichen, die 40 Stunden/Woche beliebiger Arbeit nachweisen. Auch wenn uns danach ganz schön die Köpfe rauchten, war es gut, uns im Anschluss an das sehr ins persönliche übergegangene Thema das christlichen guten Lebens vor dem Ende des Tages noch einmal mit etwas abstrakteren Themen wie der Definition von Arbeit zuzuwenden und festzustellen, dass die ghanaischen wie deutschen Studierende bei Fragen wie „Sind Menschen dazu veranlagt, faul zu sein?“ bunt verteilte Meinungen haben, die sich keineswegs an nationaler Zugehörigkeit festmachen lassen.
Etwas überschattet wurde der ganze Tag leider von dem Umstand, dass von uns Deutschen alle bis auf drei zu dem einen oder anderen Zeitpunkt aufgrund von Magenproblemen für mehrere Stunden ausfielen. Glücklicherweise ging es jedoch zum Ende des Tages allen zumindest ein bisschen besser. Und die Intensität, mit der die ghanaischen Freunde um unser aller Gesundheit bemüht waren und sind, war sehr berührend – neben aller physischen Unterstützung auch in der emotionalen Verbundenheit, die sie in ihren Gebeten für unsere Gesundheit ausdrückten.
Ein nachdenklicher, sehr positiv gestimmter Gruß aus der Volta Region
Johannes